Beziehungen Schweiz-EU: Von entfremdeten Nachbarn zu strategischen Partnern

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Beziehungen Schweiz-EU: Von entfremdeten Nachbarn zu strategischen Partnern

11 November, 2015

Beziehungen Schweiz-EU: Von entfremdeten Nachbarn zu strategischen Partnern

Bei einer Veranstaltung der Clientis Zürcher Regionalbank hält Dr. Thomas Borer eine Keynote, in der er Jahrhunderte der schweizerisch-europäischen Beziehungen nachzeichnet – von mittelalterlichen Rivalitäten bis zu den heutigen Integrationsherausforderungen. Er kritisiert die Expansion, Zentralisierung und Krisenbewältigung der EU, während er die Schweizer Traditionen der Dezentralisierung, der direkten Demokratie und der Unabhängigkeit verteidigt. Borer plädiert für pragmatische Verhandlungen zu strittigen Themen wie der Personenfreizügigkeit und setzt sich für eine proaktive Schweizer Aussenpolitik ein, die das Land als Modell für Subsidiarität, Wettbewerbsfähigkeit und Stabilität positioniert. Er fordert die EU auf, «mehr Schweiz zu wagen», und entwirft eine Vision der Schweiz als mittelgrosse Weltmacht, die europäische Debatten mitgestalten kann.

Das vollständige Transkript können Sie hier lesen:

Die EU und die Schweiz: „Entfremdete“ Nachbarn?

Einleitung
Wir sind uns sehr wohl bewusst, in welch spannender Zeit wir leben und wie beschleunigt politische und wirtschaftliche Geschichte vor unseren Augen abläuft. Erinnern wir uns an die Zeit, wo ein Mensch, der im Mittelalter geboren wurde, in seinem Umfeld kaum politische, kulturelle, technische und medizinische Veränderungen erlebte. Er starb in der fast gleichen Welt, in der er geboren wurde. Viele mögen sich manchmal auch diese Zustände zurücksehnen. Heute laufen vor unseren Augen tektonische Verschiebungen im Schnellzugtempo ab. Und ich kann mich nicht erinnern, wann wir eine solche Häufung von Krisen hatten: Flüchtlingskrise, Wirtschaftskrisen, Bürgerkriege (Ukraine, Syrien), Terror, technologische Revolutionen – die Welt ist in Bewegung und interdependent. Geschichte wird im Zeitraffer geschrieben. Und daher kann auch der Blick auf unser heutiges Thema „Die EU und die Schweiz: „Entfremdete“ Nachbarn?“ nur ein momentaner sein. Es mangelt nicht an mehr oder minder geistreichen Beobachtungen, die das spannungsreiche Verhältnis zwischen der Schweiz und ihren europäischen Nachbarn, einst wie jetzt, erklären helfen sollen. Deutsche, Franzosen, Italiener und Schweizer haben sich als Nachbarn in dieser Hinsicht in ihrer Jahrhunderte alten gemeinsamen Geschichte nichts geschenkt. Besonders das Verhältnis zwischen der Schweiz und Deutschland war schon immer speziell.

1. Ein paar anekdotische Meilensteine unserer gemeinsamen, bewegten Geschichte

Wir wissen es: Die Eidgenossenschaft war integraler Bestandteil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation mit praktisch einem Schweizer Städteverband von 10 Orten (Zürich, Bern, Luzern, Schwyz, Uri, Unterwalden, Zug, Solothurn und Fribourg). Ihrem Drang nach Selbstbestimmung entsprechend eroberten unsere Vorfahren in kleinen Scharmützeln und Expansionen immer mehr Land, was dem habsburgischen Hochadel nicht sonderlich gefiel. Geschichtlich belegt sind Schimpfworte, wie „Kalblimacher“ in Anspielung auf die Kuhzucht innerhalb der Eidgenossenschaft, die in der Unterstellung gipfelten, dass die Eidgenossen mit ihren Kühen Hochzeit machten. Der Hass keimte auch auf anderer Seite: „Sauschwaben“ war die Replique auf „Kuhschweizer“, also der Vorwurf der Sodomie mit Schweinen, der auf die schwäbische Schweinezucht anspielt. Mehrfach zogen einige freiheitsliebende Landsknechte und Bauernhaufen nach Konstanz und Süddeutschland und plünderten, was nicht niet- und nagelfest war. Heute setzt sich diese Tradition im Euroshopping fort. Immerhin rauben und brandschatzen wir jetzt nicht mehr, sondern bezahlen – wenn auch nicht mit harten Schweizer Franken, sondern der Weichwährung Euro. Aber zurück ins Jahr 1499. Da kam es dann zum grossen Schwaben- oder Schweizerkrieg, der in der deutschen Histographie – wen wundert`s – übrigens nur wenig Beachtung findet. Damals setzte sich die militärisch stärkere Eidgenossenschaft gegen die Heerscharen des deutschen Königs durch – leider gelingt uns das heute auf dem Fussballfeld eher selten. Doch selbst nach dieser gelungenen Machtdemonstration – die Eidgenossenschaft wurde in Folge dessen faktisch unabhängig – gingen die Sticheleien weiter. 1501 beschrieb der deutsche Geschichtsschreiber und „Erzieher Deutschlands“ Jakob Wimpheling in seinem Werk „Germania“ die Schweizer als Rohlinge, Grobiane, Hitzköpfe, Prahler, Kriegsgurgeln und schändliche Räuber. Solch Gedrucktes kam aber wohl den Analphabeten in den Alpen nie zu Gesicht. Das Schweizerische war in der Aussensicht negativ als rebellisch, gottlos und unzivilisiert konnotiert und hatte in den Ohren des deutschen Adels einen schlechten Ruf, ähnlich wie heute in Brüssel. Mit den Jahrhunderten und der Aufklärung machte das gegenseitige Totschlagen dann dem kulturellen und wirtschaftlichen Austausch Platz. Ausgerechnet einer der beiden grössten deutschen Dichter, Friedrich Schiller, wagte das Unglaubliche und verfasste das Schweizer Nationalepos „Wilhelm Tell“. Und sein Kollege Johann Wolfgang wusste zu berichten: „Mir ist wohl, dass ich ein Land kenne, wie die Schweiz – hab ich doch immer dort einen Zufluchtsort.“ Man kann wohl sagen, dass Goethe somit zum Vorbild vieler deutscher Steuerflüchtlinge wurde. Die immer grössere kulturelle Verbandelung der Länder Europas war aber nicht der Ursprung der EU. Vielmehr die vielen Kriege zwischen unseren europäischen Nachbarn, welche in den zwei Weltkriegen kumulierten. Ein zentraler Grundgedanke der Gründerväter der EU war, dass man die Länder so miteinander verbinden wollte, dass ein Krieg in Europa, und von Europa aus, nicht mehr möglich sein würde. Für alle Schweizer steht die gewaltige Nachkriegsleistung der Europäischen Union ausser Frage. Sie hat die ehemaligen „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich miteinander versöhnt und diesem Kontinent Frieden und Wohlstand gebracht. Dafür sind wir alle dankbar. Das Ende des Kalten Krieges bildete zusammen mit technologischen Entwicklungen und der dramatischen Verringerung der Transportkosten den Auftakt und die Voraussetzung zur Globalisierung. Die Europäische Union versuchte nach 1989 auf diese Dynamik zu antworten – vor allem mit französischen Rezepten. Denn die EU ist tief französisch geprägt: Zentralisierung, Erweiterung, Bürokratie und Sozialismus. Eigenschaften die mittlerweile alle zur Krise beigetragen haben. Einige führende Politiker und EU-Bürokraten wollten die Vereinigten Staaten von Europa und sie wollten es schnell. Länder, von denen der normale Zentraleuropäer nicht einmal wusste, wo sie geografisch liegen, wurden nahezu in Lichtgeschwindigkeit in die Gemeinschaft aufgenommen, ohne dass sie in Brüssel ausreichend auf ihre Beitrittstauglichkeit geprüft wurden. Kritische Stimmen wurden überhört oder mit dem TodschlagArgument „Die EU sichere den Frieden in Europa“ überfahren. Europäisierung um der Europäisierung willen. Hier hat eine von Europaromantik getriebene viel zu schnelle Überexpansion und Vertiefung stattgefunden. Mit der Gründung der Währungsunion durch den Vertrag von Maastricht 1992 wurden unterschiedliche Wirtschaftskulturen ins Korsett einer einzigen Währung gepresst. Die Währungsunion sollte die europäische Erfolgsgeschichte vollenden. Wirtschaftliche Argumente wurden nicht gehört. (Wayne Godley „Union der Unaufrichtigkeit“: Ein Land, das mit seiner Währung auch seine eigenständige Konjunkturpolitik aufgibt, begibt sich auf die Stufe einer «Kommunalbehörde oder Kolonie».) Und tatsächlich begannen mit Maastricht die grossen Probleme.

1. Herausforderungen in der EU

1. Entwicklung der Europäischen Union

Heute ist die Euphorie der europäischen Integration bereits verpufft. Europa steht am Scheideweg. Aus einer Wirtschaftsund Finanz- und Migrationskrise ist eine Sinnkrise geworden, die gewaltige Fliehkräfte freisetzt. Der Erfolg EU-kritischer Parteien auf dem gesamten Kontinent und Grossbritanniens Abspaltungsbewegungen machen deutlich: Die Grenzen der innereuropäischen Solidarität sind erreicht. Die EU befindet sich offensichtlich in der grössten Krise seit ihrer Gründung. In den grossen Herausforderungen der letzten Jahre – zeigte sich die EU planlos, führungslos, zerrissen und hat beim EU-Bürger sehr viel Vertrauen eingebüsst. Die wirtschaftlichen Verwerfungen rund um die Euro-Krise und die unbeholfenen Reaktionen in der Flüchtlingskrise entlarvten den Ordnungsrahmen als Schönwetterkonstrukt. Reihenweise wurden rechtskräftig besiegelte Regeln ausser Kraft gesetzt. Die Union, so der Eindruck, agiert in einem permanenten Adhoc-Krisenmodus. Folgenschwere Entscheidungen werden zu nächtlicher Stunde unter hohem Zeitdruck in Hinterzimmern und mit demokratiepolitisch fraglicher Legitimation gefällt. Die EU war immer ein Eliteprojekt. Man hat es unterlassen, die Bevölkerung mitzunehmen. Dies rächt sich. Ich sehe übrigens eine gewisse Parallele zu den gegenwärtigen Vorgängen in den USA. Wir wundern uns, wie Donald Trump wohl die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner gewinnen kann und wie Bernie Sanders die klare Favoritin Hillary Clinton in Bedrängnis bringt. Die europäischen Medien machen sich gerne über Trump lustig. Aber eigentlich reiten Trump und Sanders auf der gleichen Welle wie in Europa die EU-Gegner in den verschiedenen Ländern: man kämpft für die einfachen Leute gegen die politischen Eliten, die als unfähig und korrumpiert dargestellt werden. Auch in Europa sind eben grosse Teile der Bevölkerung von den Eliten in den Hauptstädten und Brüssel entfremdet und enttäuscht. Und die Flüchtlingskrise macht Einwanderungsfragen noch viel drängender als in den USA. Und wer auch immer in den USA oder Europa gewinnt, eines ist klar: es stehen uns Turbulenzen ins Haus. Ein Fanal wird die Abstimmung vom 23. Juni in Grossbritannien über einen Rückzug aus der EU sein, und der Ausgang dieser Abstimmung ist alles andere als klar. Ein Austritt Grossbritanniens wäre für die EU ein Tabubruch mit schwer kalkulierbaren Folgen. Mit dem Abgang des drittgrössten Beitragszahlers und der zweitgrössten Volkswirtschaft der EU würde deren Wirtschaftskraft mit einem Schlag um 16 Prozent schrumpfen. Der frühere EU-Kommissar Verheugen hat mir kürzlich auf die Frage, kann die EU noch zerfallen? folgendes geantwortet: „Diese Frage hätte ich noch vor zwei Jahren strikte verneint. Heute halte ich das – leider – für möglich.“ Lassen Sie uns ganz kurz auf die grossen Probleme der EU eingehen:

1. Griechenland und Frankreich

Die eine Herausforderung sind die Wirtschafts- und Finanzprobleme in einzelnen Staaten, allen voran Griechenland und Frankreich. Was Griechenland betrifft, ist dieses Land nun mehr oder weniger unter Protektorat der Europäischen Union. Das fundamentale Problem Griechenlands ist aber keineswegs gelöst und kann die EU und den Euro weiter von einem Tag zum anderen destabilisieren. Es ist übrigens interessant, wie dieses Riesenproblem plötzlich aus den Schlagzeilen verschwunden ist. Medial ist es vorläufig erledigt, aber materiell leider nicht. Was mich noch mehr beunruhigt, ist die unsichere wirtschaftliche Zukunft Frankreichs. Flexibilität im Arbeitsmarkt und Reformen im Steuersystem sind dringend notwendig, aber offensichtlich politisch unmöglich. Keine der drei grossen Parteien strebt das an. Frankreich wird weiterhin an Gewicht verlieren und könnte für ganz Europa zu einem wirtschaftlichen Problem werden. Im Gegensatz zu Griechenland kann Frankreich in solch einem Falle kaum finanziell gerettet werden. Die Konsequenzen wären desaströs – auch für stärkere Europäische Volkswirtschaften wie Deutschland oder die Schweiz. Offen ist auch, ob die Experimente der Notenbanken nicht ein schlechtes Ende nehmen und wie man mit den unglaublich hohen Staatsschulden umgeht. Auch dies macht chaotische und gefährliche Zeiten möglich.

2. Flüchtlingskrise

Flüchtlingszahlen werden so lange weitersteigen, als die EU bzw. allen voran Deutschland nicht konsequent Gegensteuer gibt. Auch aus afrikanischen Ländern werden in diesem Jahr viele Asylbewerber kommen – sie verfolgen die Entwicklungen in Europa mit Interesse und kommunizieren täglich miteinander. Und das gesamte Ausmass ist schwer vorstellbar. Man sehe sich nur die Einwohnerzahlen einiger vom Krieg und Krisen gebeutelter Länder an:
• Syrien mit 23 Mio. Einwohnern
• Irak mit 34 Mio. • Afghanistan mit 30. Mio.
• Eritrea mit 6 Mio.
• Ganz Afrika mit 1.2 Milliarden, bis 2050 gegen 2 Milliarden
Geschickt nützt die Türkei die Notlage der EU aus und verlangt grosse Konzessionen. Aber wenn die Flüchtlinge nicht über die Balkanroute kommen können, dann kommen sie übers Mittelmeer oder eine noch andere Route. Der Flüchtlingsbegriff, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert wurde, ist angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftsmigration, die sich zur Völkerwanderung steigern könnte, völlig unangepasst. Eine nachhaltige Lösung bringt nur ein umfassendes wirtschaftliches, politisches und militärisches Engagement in den Herkunftsländern der Migranten. Hier müssen wir jahrzehntelange Versäumnisse aufholen. Und hier ist mit den Milliarden, die wir für Migranten in Europa ausgeben, auch viel mehr Wirkung zu erzielen.

3. Der Sonderfall Schweiz und die Europäische Union

Die Schweiz hat in ihrer Geschichte immer wieder Anfeindungen, Druck und Kritik aus dem Ausland erfahren – vor allem weil sie mit ihren Institutionen und Werten ein Dorn im Auge der Mächtigen war – und wie das Beispiel zeigt – immer noch ist. Dies war im Spätmittelalter so, im 19. Jahrhundert, zur Zeit des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Wir wurden oft verachtet, angepöbelt, bedroht. Das Ausland hat historisch immer stark auf den Sonderfall Schweiz reagiert – mit Zustimmung und vor allem mit Ablehnung. Die Schweiz war oft gegenläufig zu den Zeittrends. Meist gab uns die Geschichte Recht, und Jahrzehnte später ist uns das Ausland gefolgt. Denken wir z. B. nur an die Verachtung, mit denen uns im 19. Jahrhundert die konservativen Aristokratien Europas begegnet sind. Und 100 Jahre später hat sich auch bei ihnen Demokratie und Liberalismus durchgesetzt. Die Schweiz wurde über die Jahrhunderte oft vom Sonderfall zum Schrittmacher. Immer wieder belegte sie mit ihrer Existenz, dass es Alternativen zu den vorherrschenden Staats- und Verhaltensformen gab, zu Absolutismus, Zentralismus und Nationalismus. Dies hat uns immer wieder Neid, Missgunst und Nachstellungen der Mächtigen gebracht. Druck auf die Schweiz hat Tradition. Die gegenwärtige Situation mit den Spannungen zwischen Brüssel und Bern unterscheidet sich im Prinzip kaum von den Vorgängen in der Vergangenheit. Immerhin werden wir heute nicht militärisch bedroht. Das Misstrauen und Zögern der Schweiz gegenüber der EU ist aus historischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen verständlich. Die Schweizer Geschichte lehrt uns ein tiefes Misstrauen gegen Machtballung, Zentralismus und Bürokratie. Und vor allem gegen den Mangel an demokratischer Abstützung. Denn die europäische Einigung war immer ein Projekt der Eliten, und von Beginn an wollten sich die führenden Staatsmänner durch die Mitwirkung der Bürger nicht zu sehr stören lassen. Das ist leider auch heute noch so. Das schreckt einen Schweizer ab und führt mittlerweile auch in Europa zu einem Graben zwischen dem europäischen Volk und vielen EU-Politikern. Und in gewisser Hinsicht ist das Misstrauen gegenseitig. Für echte EU Fanatiker ist die Schweiz ein permanenter Stachel im Fleisch. Sie zeigt nämlich auf sehr eindrückliche Weise, dass es auch anders geht, als uns Brüsseler Bürokraten weiss machen wollen und dass man dabei sehr erfolgreich sein kann. Gerade jetzt wird die Schweiz z. B. in England von EU-Gegnern als gutes Beispiel ins Feld geführt. Die Schweiz widerlegt eben Thesen der EU, z. B. dass man in der globalisierten Welt nur als grosser Verband erfolgreich sein könne, dass unser globales Zeitalter nicht nach mehr Mitbestimmung, sondern nach mehr supranationaler Machtkonzentration verlange. Das ist Unsinn. Und ebenso ist es Unsinn, wenn man meint, man könne die jahrhundertelang gewachsenen europäischen Nationalstaaten mit ihren unterschiedlichen Kulturen mit einer Richtlinie aus Brüssel von heute auf morgen überwinden. Es gibt keinen stichhaltigen Grund, weshalb eine Organisation wie die EU mit globalen Herausforderungen besser fertigwerden sollte als stabile, demokratisch verfasste Nationalstaaten, die aufgrund gemeinsamer Interessen – auch im Sinne eines «give and take» – miteinander kooperieren. Es gibt Alternativen – und die Schweiz ist die lebende Antithese – und sie ist sehr erfolgreich.

4. Überblick aktuelle Probleme Schweiz – EU

Wie wir alle wissen ist das Verhältnis der EU zur Schweiz aufgrund verschiedener Streitpunkte angespannt, so z.B.:
• das Bankgeheimnis und die damit verbundene Steuerhinterziehung, welches 2015 mit dem automatischen Informationsaustausch erledigt wurde;
• die Diskussion über besondere Steuerregimes (Holdingbesteuerung, Briefkastenfirmen)
• die automatische Rechtsübernahme;
• eine Gerichtsinstanz für Streitfälle
• Stromabkommen; Dienstleistungsfreiheit
• und besonders die Personenfreizügigkeit.
Zu Letzterer, also zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, präsentierte der Bundesrat vor einer Woche die lang erwartete Botschaft. In dieser schlägt der Bundesrat, falls die Verhandlungen mit der EU zu keinem Ziel kommen, eine einseitige Schutzklausel vor. Mit dieser könnte die Schweiz ab 2019 Kontingente für EU-Bürger einführen. Für den Bundesrat ist das lediglich eine Zwischenlösung. Eine echte Lösung müsste den Text der Masseneinwanderungsinitiative respektieren und gleichzeitig die Kündigung der bilateralen Verträge verhindern. Vor dem Entscheid Grossbritanniens über den Verbleib in der EU sind die Verhandlungen mit Brüssel aber blockiert. An sich stehe ich hinter dem Vorschlag des Bundesrates. Die Schweiz muss hier etwas machiavellistischer werden. Selbst EU Mitgliedländer wie Deutschland halten sich nicht an alle EU-Verpflichtungen, von anderen Staaten wollen wir nicht reden. Gemäss der reinen Rechtslehre lässt sich natürlich eine Schutzklausel nicht mit den bilateralen Verträgen vereinbaren…aber wir sind hier nicht in einem Rechtsseminar. Daher dürfen auch wir Schweizer etwas pragmatischer werden. Genau gleich ist es innenpolitisch. Regierung und Parlament haben sich schon mehrfach nicht an verfassungsrechtlich vorgegebene Zeitrahmen gehalten, wie z. B. bei der Mutterschaftsversicherung. Daher müssen auch die zeitlichen Vorgaben der Zuwanderungsinitiative müssen etwas flexibler gesehen werden. Ob diese nun einige Monate früher oder später umgesetzt werden, darf nicht relevant sein. Wenn die Schweiz und die EU die Angelegenheit pragmatisch angehen, findet man eine Lösung. Denn dass die Personenfreizügigkeit auch in der EU mittlerweile kritisch gesehen wird, ist offensichtlich. Und die Flüchtlingskrise wird diese Sichtweise noch verstärken. Wie auch der Bundesrat vorschlägt, ist die beste Lösung aber eine welche nicht zu einer Kündigung der Bilateralen führt. Denn wir dürfen nicht vergessen, die Bilateralen halfen und helfen mit, das Erfolgsmodell Schweiz weiterzuführen: • Sie sichern Schweizer Unternehmern einen barrierefreien Zugang zu den europäischen Märkten; • bieten den Unternehmen Rechtssicherheit; • sparen Kosten und senken die administrativen Hürden; • zahlreiche Arbeitsstellen wurden in der Schweiz geschaffen und die Arbeitslosenquote ist gesunken; • Arbeitnehmer profitieren von höheren Löhnen und • reine Freihandelsabkommen können diese Vorteile niemals wettmachen. Die Bilateralen sind für die Schweizer Industrie sehr wichtig Im Jahr 2014 exportierte die Schweiz Waren im Wert von über 114 Milliarden CHF in die EU, was gemessen an den Gesamtexporten einem Anteil von 54.73% entspricht. Andererseits importiert die Schweiz 73.13% aller Güter aus der EU. Im Jahr 2014 exportierte die EU Waren im Wert von über 1‘700 Milliarden EUR, davon gingen Exporte im Wert von rund 140 Mrd. in die Schweiz, was einem Anteil von 8.24% an den Gesamtwarenexporten der EU entspricht. Die Schweiz war im Jahr 2014 somit die drittwichtigste Destination von Warenexporten der EU hinter den USA und China. In Sachen Import ist die Schweiz mit 5.74% der Gesamtwarenimporten der EU der viertwichtigste Zulieferer von Waren der EU hinter China, den USA und Russland.

2. Handlungsmöglichkeiten für die EU und die Schweiz

1. Rückbesinnung auf den Gedanken der Subsidiarität

Die EU bedarf offensichtlich struktureller Reformen. Im Kern gilt es dabei sich darüber zu einigen, welchem Grundsatz man folgen will: eine stärker integrierten Union mit gemeinsamer Wirtschaftsregierung und eine Finanzpolitik aus einem Guss oder eine Union mit stärkerer nationaler Eigenverantwortung und Subsidiarität, mit dezentralen Entscheidungen ohne direktes Durchgriffsrecht der EU. Zu den Fürsprechern einer Zentralisierung gehören Frankreich und Italien. Ihre Argumente sind angesichts der real existierenden Währungsunion durchaus konsistent, weil das Nebeneinander supranationaler Geldpolitik und nationaler Finanzpolitik zu inhärenter Instabilität führt. Die Einheit von Haftung und Kontrolle wäre dabei insofern gegeben, als die Vergemeinschaftung von Risiken einhergehen würde mit der Abgabe wirtschaftspolitischer Souveränität an Brüssel. Teilweise hat eine solche Zentralisierung schon stattgefunden, etwa im Rahmen der Bankenunion; so wurde die Aufsicht über die Banken und deren Abwicklung im Krisenfall auf die europäische Ebene gehievt. Geplant ist auch eine Vergemeinschaftung der Einlagensicherung. Dagegen regt sich aber Widerstand. Vor allem Deutschland tut sich schwer mit dem Gedanken, im Inland angesparte Geldtöpfe auch anderen Staaten zugänglich zu machen. Erfolgreicher scheint daher die zweite Option, das Bekenntnis zu grösstmöglicher Dezentralisierung und Subsidiarität. Den Mitgliedstaaten käme weitgehende Eigenverantwortung bei der Wirtschaftspolitik zu, eingeschränkt nur durch fiskalische Mindestkriterien, wie sie innerhalb einer Währungsunion, die so einfach kaum rückgängig zu machen ist, unumgänglich sind. Um auch hier die Balance von Haftung und Kontrolle zu wahren, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens wäre sicherzustellen, dass die EU und deren Staaten nicht für Schulden anderer Mitglieder einstehen. Damit eine solche bereits existierende, bisher aber nicht ernstgenommene Nichtbeistandsklausel glaubwürdig wird, müsste zweitens allen Akteuren klarwerden, dass eine Staatsinsolvenz kein rein fiktives Szenario ist. Um dies zu erreichen, wäre die Schaffung eines klar strukturieren Insolvenz- und Ausschlussverfahrens für Staaten geboten. Sind die zwei Voraussetzungen erfüllt, funktioniert auch die Disziplinierung durch die Märkte wieder. Heute ist das nicht der Fall, da die Märkte – zu Recht, wie die Vergangenheit gezeigt hat – davon ausgehen, dass Krisenstaaten stets durch den Euro-Verbund gestützt werden. Staatliche Schuldenwirtschaft führt daher nicht zu einer adäquaten Anpassung der Schuldzinsen. Dies schmälert den Anreiz, auf den Pfad der Tugend zurückzukehren. Die Drohkulisse einer Insolvenz und ein verbindliches Regime für Schuldenschnitte könnten dies ändern. Abgeschafft gehörte dabei auch die regulatorische Vorzugsbehandlung von Staatsanleihen als angeblich risikolose Vermögenswerte. Nur wenn Schuldpapiere von Staaten verschiedener Bonität auch verschieden behandelt werden, übt dies Druck auf Problemstaaten aus und lassen sich Klumpenrisiken in Bankbilanzen verhindern. Bei der Umgestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion sollte Brüssel also nicht auf Zentralisierung und Vergemeinschaftung setzen. Nur die Rückbesinnung auf den Gedanken der Subsidiarität verspricht einen Ausweg aus der Krise.

2. Europa zweierlei Geschwindigkeiten

Meiner Ansicht nach sollte die EU eine Organisation mit zweierlei Geschwindigkeiten werden. Z. B. ein Kerneuropa, also den Beneluxstaaten, Frankreich und Deutschland, welche sich noch stärker integrieren, und dem Rest Europas, welcher sich mehr in Richtung zu einer Freihandelszone „De Luxe“ entwickelt. Denn es ist absurd zu glauben, dass eine Vertiefung der Integration die Zustimmung aller Mitgliedsländer fände. Die meisten EU-Bürger wollen nicht „more Europe but better Europe“. Auch wäre ein Europa ohne gemeinsames Geld und gemeinsame Aussengrenze keine Schande. Dabei täte man gut daran, das Vorbild Schweiz zu beherzigen:

3. Pro-aktives Auftreten im Ausland

Ich bin der festen Überzeugung: Die Schweiz könnte als Ideengeber und Vorbild die angeschlagene EU beflügeln. So wie sie das schon in einigen Punkten bereits erfolgreich getan hat.
• Ich denke da z.B. an die Ausgabenbremse, – einer unserer Exportschlager.
• Ich denke an die konsequente Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips und des Konkurrenzföderalismus – wie wir das vorleben –
• und vielleicht auch an mehr direkte Demokratie.

Die EU müsste „mehr Schweiz wagen“.

Wir haben viele Fragen, die in Verhandlungen mit der EU geklärt werden. Natürlich erklärt unsere Regierung, dass diese Verhandlungen äusserst schwierig sind. Aber rufen wir uns in Erinnerung: Alle Verhandlungen mit der EU oder der EG waren schon immer schwierig – und trotzdem waren wir jedes Mal erfolgreich. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir auch dieses Mal bezüglich Zuwanderung erfolgreich sein werden. Die Verhandlungen müssen aber unbedingt mit öffentlicher Diplomatie in Brüssel und in den wichtigsten EU-Ländern vorbereitet und begleitet werden. Wir müssen dort aktiv und offensiv gegenüber Entscheidungsträgern und Meinungsmachern darlegen, weshalb die Schweiz gegenwärtig vor grossen Herausforderungen mit der Personenfreizügigkeit steht, wieso andere EU-Länder in Bälde ähnliche Probleme bekommen könnten und welche Lösungen wir anbieten. Wir müssen eine europaweite öffentliche Debatte über die Personenfreizügigkeit und Migration in Gang bringen, um Wohlwollen für unsere Anliegen zu gewinnen und als konstruktiv wahrgenommen zu werden. Wir dürfen diese Debatte nicht nur einigen, aus Prinzip gegen die Schweiz eingestellten EU-Kommissaren und EUVerhandlungsführern überlassen. Ein pro-aktives Engagement würde also unserem Chefunterhändler massgeblich helfen, seine Ziele zu erreichen.

Fazit: Neue Philosophie der Schweiz

Ich plädiere deshalb für eine neue, offensive Philosophie der Schweiz auf internationaler Ebene. Ein immer internationaler verstricktes Wirtschaftsumfeld bedarf neuer, zeitgemässer Rahmenbedingungen. Wir verstecken uns oft hinter der Ausrede, die Schweiz sei ein Kleinstaat und man könne daher dem Druck nicht standhalten. Nun, waren wir denn im 19. Jahrhundert eine Grossmacht oder zur Zeit des Zweiten Weltkrieges? Nein, sicher nicht. Im Übrigen sind wir vielleicht geographisch und von der Einwohnerzahl her ein Kleinstaat, sonst aber nicht. Denn die Stellung eines Staates bestimmt sich in der modernen Welt durch seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Finanzkraft, durch die Kreativität und Innovationsfähigkeit seiner Gesellschaft, durch die Qualität des Bildungssystems, die kulturelle Ausstrahlung, die „soft power“ und vieles mehr. Legen wir diese Messlatte an die Schweiz an, schneidet sie in aller Bescheidenheit gut ab. Wir gehören wohl zu den zwanzigst mächtigsten Länder der Welt. So hat kürzlich der Markenwertspezialist Brand Finance eine Methodik entwickelt, um den Markenwert von Ländern abzuschätzen. Begriffe wie „USA“, „China“ oder die „Schweiz“ nicht bloss politische bzw. geografische Bezeichnungen, sondern auch „Brands“ und haben demzufolge einen Wert. Der Ruf, das Image eines Landes ist schliesslich in erheblichem Mass entscheidend dafür, ob Einheimische wie auch Ausländer dort investieren, einkaufen, Ferien verbringen. Die Schweiz ist für ihre geringe Grösse prominent klassiert, auf Platz 14. Die Schweiz, und das müssen wir Schweizer Bürger in unserem Bewusstsein verankern, ist weltpolitisch gesehen eine Mittelmacht. Leider gelingt es unserer Regierung und Diplomatie nicht, dieses Potential in politischen Einfluss umzusetzen. Denn dass die Schweiz ein Kleinstaat ist wird uns schon mit der Muttermilch eingetrichtert. Die Schweiz hat viele Mahner, Bedenkenträger, Bremser, Kritiker und zu wenig Visionäre, Beweger, Gestalter, Pioniere. Der Schweizer Schriftsteller und Nobelpreisträger von 1919 für Literatur, Carl Spitteler, hat festgehalten: „Wenn die Schweizer die Alpen selbst gebaut hätten, wären sie nicht so hoch, dann wären sie bescheidener geraten.“ Wir müssen stolz auf unsere schönen und hohen Berge sein und dieses Gefühl auch in die Welt hinaus tragen. Was das Verhältnis mit der EU betrifft, sollten wir auf das besinnen, was uns verbindet und nicht auf das, was uns trennt. Einander verstehen und eventuell sogar mögen, setzt eine gegenseitige Kenntnis der grossen Stärken und kleinen Schwächen des Anderen voraus. Um es in den Worten des französischen Dramatikers Marcel Achard zu sagen: „Nachbarn sind die Prüfungsaufgaben, die uns das Leben stellt.“ Ich wünsche mir, dass die Schweiz und die EU auch weiterhin dieser Prüfungsaufgabe gewachsen sind.

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